OPENING: 5. September 2020, 10 – 16 Uhr
Ausstellungskatalog mit einem Text von Dr. Simon Baur auf Anfrage erhältlich.

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Wo man Wünsche beim Schwanz packt

Meret Oppenheims grosses Schatteneinmaleins

«Der Traum ist für meine Lebensführung wichtig. Er kann bestätigen oder mich veranlassen, eine Haltung oder Richtung zu ändern. Für meine ‹Arbeit› benütze ich ihn nicht. (das wäre ja kopieren)! Wenn ich auch 3–4 Träume in Bild festgehalten habe, das sehe ich als Dokumente an», bekennt Meret Oppenheim in einem Briefinterview mit VALIE EXPORT im Jahr 1975. (1)
Vieles von dem, was sie später in Kunst verwandeln wird, ist in ihrer Kindheit und Jugend angelegt. Meret Oppenheims Grossmutter Lisa Wenger war eine Künstlerin und Autorin, die bei Hans Sandreuter in Basel Malunterricht nahm und später ein Kunststudium in Paris, Florenz sowie an der Kunstakademie Düsseldorf absolvierte. Ihre zahlreichen Kinderbücher, die sie mit eigenen Illustrationen versehen hat – 1908 erschien ihr bekanntestes Buch «Joggeli söll ga Birli schüttle», das bis heute immer wieder neu aufgelegt wird –, zeigen eine eigenständige Variante des Jugendstils, in den sie folkloristische Elemente integrierte. Ihre Illustrationen erinnern zwar oft an den Pionier des Künstlerkinderbuchs Ernst Kreidolf, sind aber bewusst kindlicher gestaltet. Ihr Publikum bestand denn auch vorwiegend aus jungen Lesern.

Einflüsse und Ideen
Lisa Wenger kannte Ernst Kreidolf vermutlich, gehören sie doch derselben Generation an. Wahrscheinlich wuchs auch Meret Oppenheim mit seinen Bilderbüchern auf, in denen vermenschlichte Blumen, Kräuter und Sträucher sowie Heuschrecken, Raupen, Schmetterlinge und Käfer die Protagonisten sind. Denn die latente Melancholie von Kreidolfs Kinderbüchern findet in Meret Oppenheims Werken einen Nachklang. So wandeln im «Blumen-Märchen» Herr Schlüsselblum und Frau Enziane Himmelblau durch den lieblichen Blumenwald, gefolgt vom Kindermädchen Margarete mit dem Nachwuchs. Das Gedicht unter dem Bild verleiht der idyllischen Szenerie jedoch einen melancholischen Unterton, indem es das Ende vorwegnimmt:

«Machen ihre Promenade
Täglich oftmals auf und ab,
Bis im Herbst, es ist zu schade,
Blatt und Blume sinkt ins Grab –
Auch Herr Schlüsselblum und Frau
Enziane Himmelblau.» (2)

Im selben Buch ist übrigens auch das Schmetterlingsfest abgebildet. Schmetterlinge und Falter feiern unter einem Dach, während über ihnen ein Gewitter tobt. Dieses Bild wird Meret Oppenheim wohl vor Augen gehabt haben, als sie ihren Wasserpavillon «Unterm Teich» realisierte. «Ein Gartenhäuschen aus Wasser» nannte sie es selbst. Eine reizende Vorstellung: Man sitzt geschützt um einen Zylinder, in dem sich die Küche und der Tresen des Cafés befinden, trinkt etwas Wärmendes und isst Kuchen, während einen ein Wasservorhang umgibt. Zweifelsohne wirkten sich literarische Werke inspirierend auf Meret Oppenheims künstlerisches Schaffen aus. So könnten die beiden 1931 entstandenen Zeichnungen mit dem Titel «Selbstmörder-Institut» in einem direkten Zusammenhang mit dem gleichnamigen Buch «Un istituto per suicidi» des Baslers Gilbert Clavel stehen. Diese anregende Person lebte nach einem Studium der Kunstgeschichte und Ägyptologie vorwiegend auf Capri, brachte 1918 mit Fortunato Depero die «Balli plastici», ein Märchenspiel in fünf Akten zur Musik von Alfredo Casella, Gerald Tyrwhitt, Béla Bartók und Francesco Malipiero, im Teatro dei Piccoli in Rom zur Aufführung und gestaltete bis zu seinem Tod 1927 einen aus dem 16. Jahrhundert stammenden «Sarazenenturm» in Positano, der einst zur Verteidigung gegen Angriffe vom Meer gedient hatte, zu einem geheimnisvollen Gesamtkunstwerk um. Auch «Der Steppenwolf» von Hermann Hesse – dieser lebte ab 1924 drei Jahre mit Merets Tante Ruth Wenger zusammen – könnte ihre frühen Zeichnungen inspiriert haben. Zudem beziehen sich Bildtitel wie «Erlkönigin», «Rotkäppchen und Wolf» oder «Das Leiden der Genoveva» auf Märchen, Gedichte oder zumindest Erzählungen aus ihrer Kindheit und Jugend.

Pariser Erlebnisse
Mit ihrer Freundin Irène Zurkinden fährt Meret Oppenheim im Frühjahr 1932 nach Paris. Auf der Bahnfahrt trinken sie sich einen Pernod-Rausch an, und kaum angekommen gehen sie ins Café du Dôme, das damals ein wichtiger Künstlertreffpunkt war. Sporadisch besucht sie die Académie de la Grande Chaumière, zieht es aber vor, zuhause und in den Kaffeehäusern zu arbeiten. Dort entstehen auch erste Gedichte, wie etwa das folgende:

«Für dich – wider dich
Wirf alle Steine hinter dich
Und lass die Wände los.

An dich – auf dich
Für hundert Sänger über sich
Die Hufe reissen los.

Ich weide meine Pilze aus
Ich bin der erste Gast im Haus
Und lass die Wände los.» (3)

Hier klingt noch Rainer Maria Rilkes «Herbsttag» nach. Vermutlich wusste Meret Oppenheim von ihren Basler Künstlerfreunden, dass dieser 1920 im Atelier von Niklaus Stoecklin aus seinen Texten gelesen hatte. Ob ihr auch bekannt war, dass Francesca Stoecklin, die Schwester des zur Neuen Sachlichkeit zählenden Künstlers, mit Rilke und einigen anderen unmittelbar nach dieser Lesung eine spiritistische Séance durchführte? Solcherlei hat aber auch Merets Grossmutter Lisa Wenger veranstaltet. Aus der Biografie Theo Wengers, des Grossvaters von Meret Oppenheim, erfahren wir, dass Lisa Wenger bisweilen «das Tischli» befragte: «‹Das Tischli›, ein kleiner runder Tisch mit den 24 Buchstaben des Alphabets [sic] an seinem Rande diente als Mittel zum Wahrsagen. Eine Reihe von Personen sassen darum herum (Lisa Wenger musste unter ihnen oder im Zimmer sein); in die Mitte stellte man ein umgekehrtes Wasserglas; dann legte jeder einen Finger auf das Glas, und dieses begann, nachdem (einerlei ob laut oder nur in Gedanken) von einem Anwesenden eine Frage gestellt war, sich auf die Buchstaben hin zu bewegen, und im Zickzack wandernd aus den erreichten Buchstaben Wörter zu bilden, welche, zu Sätzen vereint, stets eine sinnvolle Antwort gaben. Nicht selten kamen sogar Reime zustande.» (4)
Manche von Merets späteren Gedichten könnten durchaus am «Tischli» entstanden sein.

Kontakt zu den Surrealisten
Meret Oppenheim besucht Alberto Giacometti in seinem Atelier und verkehrt mit den Basler Kollegen Hans Rudolf Schiess und Kurt Seligmann. Durch diese Künstler lernt sie Hans Arp, Sophie Taeuber und Max Ernst kennen, dem sie aber nach einer einjährigen stürmischen Amour fou den Laufpass gibt, weil er ihrer Entwicklung im Weg steht. Ihre Beziehung mit Marcel Duchamp, die bis zu seinem New Yorker Exil 1942 dauert, muss für sie erfüllender gewesen sein. Er motiviert sie nicht nur, fleissig Objekte zu machen, sondern versucht auch, ihr eine Stelle als Restauratorin zu besorgen. Sie wiederum vermittelt einige seiner Bilder und Objekte an Schweizer Sammler und bemüht sich um eine Ausstellung seiner Kunst in der Maison Schulthess, in der sie 1936 ihre erste Einzelschau hat. Arp und Giacometti sind es, die sie vermutlich im Spätsommer 1933 im Atelier besuchen und auffordern, im «Salon des Surindépendants» gemeinsam mit den Surrealisten auszustellen. Dort ist sie bestimmt Man Ray begegnet, denn auch er zeigte dort Werke. Für ihn arbeitet sie wenig später als Modell. Im Atelier von Louis Marcoussis entstehen die bekannten Fotos an der Druckerpresse, von denen eines kurz darauf in der Zeitschrift «Minotaure» abgebildet wird. Sie beteiligt sich an den Aktivitäten um André Breton, verfolgt aufmerksam die Diskussionen der Surrealisten, fährt aber während der Sommermonate ins Tessin, wo ihre Grossmutter Lisa Wenger ein weltoffenes Haus führt. Carona, gleichbedeutend mit der Welt ihrer Grossmutter, aber auch ihrer Kindheit, und Paris, die Weltstadt und Hochburg ihrer surrealistischen Auseinandersetzungen, das sind die geografischen Pole, zwischen denen sich ihr Werk verorten lässt. Das Dorf im Tessin ist sowohl Nährboden und Wegbereiter für Meret Oppenheims Surrealismus als auch ihr Rückzugsort, an dem sie sich ungestört der eigenen Arbeit widmen kann. In Carona entstehen erste Objekte, wie etwa ein abgerundetes Holzbrett, in dessen eingeschnitzte Vertiefungen sie weisse Zuckermandeln klebt. Den «Kopf eines Ertrunkenen, dritter Zustand», so der Titel, schenkt sie später Yves Tanguy. Diese Form kehrt immer wieder in Arbeiten, die mit Gesichtern und mit Wasser in einem näheren und weiteren Zusammenhang stehen.
Merets Vater, Arzt in Steinen im Wiesental, sorgt sich um seine Tochter und schickt sie zu Carl Gustav Jung. Dieser schreibt im September 1935: «Ich glaube nicht, dass der Fall allzu schlimm liegt. Sie scheint durch den Zusammenstoss mit der Welt einiges gelernt zu haben und es ist nicht einzusehen, warum diese Kenntnis sich nicht im Laufe der Zeit noch erheblich vertiefen sollte. Ich habe gar nicht den Eindruck, als ob irgend eine neurotische Komplikation dabei vorläge. Das künstlerische Temperament einerseits und die jugendliche Desorientiertheit eines Zeitalters, das die Vernünftigkeit des 19. Jahrhunderts wettmachen muss, sind wohl genügend Erklärung für die Unkonventionalität des Standpunktes. Ich habe auch den Eindruck, dass der Kampf mit den Realitäten bei der natürlichen Intelligenz Ihrer Tochter in wenigen Jahren einen Ernst hervorbringen wird, welcher auf eine genügende Anpassung an die Mächte der Wirklichkeit hoffen lässt.» (5) Meret Oppenheim schreibt später selbst dazu: «Ich fand den Nachmittag bei ihm sehr angenehm. Er sagte, unter andern: Man verlangt von allen Frauen, dass sie Engel seien. (sehr wichtig!)». (6) Vierzig Jahre später, anlässlich der Übergabe des Kunstpreises der Stadt Basel, wird sie es auf ihre Art formulieren: «Aus einem grossen Werk der Dichtung, der Kunst, der Musik, der Philosophie spricht immer der ganze Mensch. Und dieser ist sowohl männlich wie weiblich. Im alten Griechenland waren es die Musen, die die grossen Männer inspirierten. Das heisst, das Geistig-Weibliche in ihnen selbst war beteiligt am Werk, und das ist heute noch so. Ebenso hat das Geistig-Männliche teil an den Werken der Frauen.» (7)

Einzelausstellung in Basel
1936 hat Meret Oppenheim in der Galerie von Marguerite Schulthess ihre erste Einzelausstellung. Für die Einladungskarte verfasst Max Ernst einen Text. Sie zeigt dort «gemalte, gezeichnete, geklebte Bilder» und Objekte, etwa «Ma gouvernante – My nurse – Mein Kindermädchen», ein Paar zusammengebundene Stöckelschuhe, die sich heute im Moderna Museet in Stockholm befinden. Der Kritiker der National-Zeitung konnte mit der Ausstellung nicht viel anfangen: «Zu wenig Substanz, zu wenig ‹objet›, so betitelt Meret ihre Produkte, zu wenig Können und vor allem zu wenig Erkenntnis der eigentlichen Probleme einer ars nova. Gewiss Meret imitiert nicht, dazu fehlt es ihr an Geschick und technischer Routine und am ‹verbrecherischen› Willen. Sie will überhaupt zu wenig, sie wird mehr gewollt und überlässt sich ungeformten Träumen von modernen sexualpsychologischen Gespenstern.» (8) Dagegen äussert sich der Kritiker der Basler Nachrichten, es dürfte sich um Hans Graber, einen Verfechter der modernen Kunst, handeln, fast schon prophetisch: «Hier stellt Meret Oppenheim aus und zeigt, dass sie begabt ist. In welcher Richtung ihre besondere Begabung verläuft, lässt sich noch nicht absehen, verschiedenste Wege werden beschritten, ausprobiert, spielerisch betreten; eine eindeutige Spur ist noch nicht hinterlassen. Wird sie malen, kleben, plastisch arbeiten? Wird sie sich weiter eines Traums entledigen, indem sie ein Gespenst auf Schlangenhaut malt, indem sie die Phantasie in die Richtung eines solchen Vorwurfs weist: ‹Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich›, oder indem sie Strohhalme auf schwarzen Grund klebt, Hosenknöpfe hingegen auf weissen?» (9) Verkauft hat sie in dieser Ausstellung vermutlich nichts, einige Arbeiten hat sie später zerstört, andere noch später wieder geflickt oder neu gemacht.

Frühstück im Pelz
Da der Vater 1936 Steinen im Wiesental, wo er als praktizierender Arzt tätig war, verlassen muss und für Meret Oppenheim dadurch die finanzielle Unterstützung ausbleibt, beschliesst sie, in Paris Schmuck- und Modeentwürfe zu zeichnen. Doch ihre Vorschläge sind auch den progressivsten Couturiers zu extravagant. Immerhin produziert sie für Elsa Schiaparelli Armbänder aus einem geschnittenen, geschliffenen und mit Pelz beklebten Metallrohr.
Pablo Picasso gibt ihr den entscheidenden Impuls, aus dem später ihre Pelztasse entsteht, André Breton erfindet den Titel «Déjeuner en fourrure» (Frühstück im Pelz) in Anlehnung an Édouard Manets «Le Déjeuner sur l’herbe» (Das Frühstück im Grünen). Dass ein solch früher Erfolg zu einer Krise führen muss, liegt auf der Hand. Im Mai 1981 schreibt Meret an ihre Schwester Kristin: «Wahrscheinlich kam aber doch durch den grossen Erfolg der Pelztasse (im Mus. of Mod. Art, New York, 1936) der Bruch, oder Einschnitt, wo ich mir sagen musste, oder mich fragte: Ja, bin ich wirklich ein(e) Künstler(in)? Und wo die Krise einsetzte. Und als mir 1954 ‹ein Licht aufging› und sie (im Oktober) zu Ende war, entdeckte ich, dass ich innerlich eben auch immer noch an der Fähigkeit der Frauen, etwas zu leisten, gezweifelt hatte! Wie recht hat Jung, wenn er sagt: ‹Wer Minderwertigkeitsgefühle hat, ist minderwertig. Aber dieses Gefühl ist ein Ansporn aus dem Unbewussten, sich zu verbessern, weiter zu gehen.› (Kein Zitat, nur ungefähr dem Sinn nach wiederholt).» (10)
Doch sie zieht aus dem Pelztassen-Erlebnis ihre Lehren. Sie verschliesst sich, so wie es Max Ernst auf der Einladungskarte der Galerie Schulthess prophezeit, «vornehm in eine Luftspalte und verschluckt den Schlüssel. Nach vierzigtägigem Fasten bricht sie plötzlich aus und spielt seitdem gerne – warum wohl? – mit den Gipfelfortsätzen der Küstenländer und Vorgebirge». (11) Und zuvor geht Max Ernst auf ihre künstlerische Technik ein: «Ihre Farbgebung dagegen ist voller Pflanzen- und Tierreste. Darum verwahren sich ihre Bilder am besten in bleiernen Dosen und steinernen Brücken.» (12) Tatsächlich verändert sich ihr Werk in den Jahren ihrer Krise drastisch. Zuerst nur zögerlich, doch nach und nach gelingt es ihr, «alle Steine hinter sich zu werfen». Sie schreibt im Album «Von der Kindheit bis 1943»: «Bei diesem ‹neuen Stil›, seit 1939, war es mir schon lange nicht mehr wohl, obwohl ich gerade damit ‹publikumserfolg› hatte. Das letzte Bild, das man unter dieser ‹Imagerie› zählen kann, ist unvollendet, ‹Apoll u. Daphnë› [...].» (13)

Kategorien?
Auf die Diskontinuität von Meret Oppenheims Schaffen ist verschiedentlich hingewiesen worden. Doch es gibt verschiedene Möglichkeiten, ihr Werk zu kategorisieren. Abgesehen vom Surrealismus könnte man auch die Lehre von den vier Elementen heranziehen. Und es erstaunt nicht, dass sie um ihren fünfzigsten Geburtstag vier Farbstiftzeichnungen anfertigt, die sie mit «Die vier Elemente – Feuer, Luft, Erde, Wasser» betitelt. Nicht nur die Brunnenmodelle verweisen auf das Wasser als symbolischem und metaphorischem Themenkreis, auch Arbeiten wie «Kopf eines Ertrunkenen», «Unter der Regenwolke» – von der es übrigens mal eine Schweizer Briefmarke gab –, «Blick aus dem Gartenhaus», «Octopus’s Garden» oder «Lagunen» können genannt werden. Darüber hinaus finden sich Wolken, Gestirne, Wurzeln, Bäume, Vögel und Insekten zuhauf in ihrem Werk. Daneben wimmelt es von Hexen, Geistern, Feen, Märchenfiguren und natürlich Erinnerungen. Selbst die Erinnerung an die Pelztasse, die in ihrem Leben eine ähnliche Metamorphose auslöste, wie Gregor Samsa sie in Franz Kafkas Erzählung «Die Verwandlung» erlebt, taucht immer wieder auf. Allerdings sind diese Elemente nur selten in aller Eindeutigkeit zu finden. Oft zeigen sich formale Ähnlichkeiten trotz divergierender Themen – es muss folglich von einem grösseren Zusammenhang ausgegangen werden. Beispielsweise ist die 1943 entstandene Zeichnung «Die Hand der Melancholie» durchaus mit der Zeichnung «Schwalben» aus dem darauffolgenden Jahr verwandt. Das ist insofern interessant, weil die Melancholie, die ja gemeinhin auch als Mutter der Kunst gilt, sich aus ihrer Schwere löst und sich in den Flug der Schwalben – den Inbegriff von Unabhängigkeit und Freiheit – transformiert. Und die Freiheit ist nicht nur immer die «Freiheit der Anders- denkenden», wie es Rosa Luxemburg formulierte, sondern sie ist auch eine, die «einem nicht gegeben wird, die man sich nehmen muss» (14), wie es Meret Oppenheim tat. Diese bleibt die geheimnisvolle Schamanin, die mit diversen Elementargeistern einen intensiven Dialog pflegte und uns bis heute vor ungelöste Rätsel stellt. Max Ernst hatte recht, als er auf der Einladungskarte von 1936 schrieb: «Wer ist uns über den Kopf gewachsen? Das Meretlein. Die bessern Da- (Fortsetzung folgt).» (15)

Simon Baur

1 VALIE EXPORT im Gespräch mit Meret Oppenheim, in: «Mana. Fe- minismus. Kunst und Kreativität. Ein Überblick über die weibliche Sensibilität, Imagination, Projektion und Problematik, suggeriert durch ein Tableau von Bildern, Objekten, Fotos, Vorträgen, Diskussionen, Lesungen, Filmen, Videobändern und Aktionen», hrsg. von VALIE EXPORT, Ausst.-Kat. Galerie nächst St. Stephan, Wien 1975, S. 4–6.
2 Ernst Kreidolf, «Blumen-Märchen», Bern 1963, o. S.
3 Meret Oppenheim, «Husch, husch, der schönste Vokal entleert sich. Gedichte, Zeichnungen», hrsg. von Christiane Meyer-Thoss, Frankfurt am Main 1984, S. 31.
4 Theo Wenger, Biografie, unpubliziertes Typoskript, S. 11.
5Meret Oppenheim, «Worte nicht in giftige Buchstaben einwickeln. Das autobiografische Album ‹Von der Kindheit bis 1943› und unveröffentlichte Briefwechsel», hrsg. von Lisa Wenger und Martina Corgnati, 2. Aufl., Zürich 2015, S. 51.
6 Ebd.
7 Bice Curiger, «Meret Oppenheim. Spuren durchstandener Freiheit», mit Texten und Gedichten von Jean-Christophe Ammann u. a., vollständiges Werkverzeichnis, bearb. von Dominique Bürgi, 3. Aufl., Zürich 1989, S. 130.
8 «Basler Kunstsalons. ‹Objets› von Meret Oppenheim in der Galerie Schulthess», in: National-Zeitung, Nr. 197, 29. April 1936.
9 «Ausstellung Maison Schulthess», in: Basler Nachrichten, Nr. 113, 25./26. April 1936.
10 Oppenheim 2015 (wie Anm. 5), S. 17.
11 Zit. nach Curiger 1989 (wie Anm. 7), S. 29. 12 Ebd.
13 Oppenheim 2015 (wie Anm. 5), S. 189.
14 Zit. nach Curiger 1989 (wie Anm. 7), S. 130 15 Zit. nach Curiger 1989 (wie Anm. 7), S. 29.